Die Allgemeine Homöopathische Zeitung (AHZ) ist die Mitgliederzeitschrift des DZVhÄ. In der dritten Ausgabe 2022 steht das Thema „Sepia officinalis“ im Mittelpunkt. Lesen Sie das Editorial und die Vereinsmitteilung in voller Länge und stöbern Sie im Inhaltsverzeichnis. Mitglieder erhalten die komplette Print-Ausgabe automatisch im Rahmen ihrer Mitgliedschaft.
Editorial: Sepia officinalis
von Christian Lucae
In Hahnemanns Arzneimittellehre sind rund 120 Arzneien enthalten. Sie bestehen vorwiegend aus Pflanzen und chemische Substanzen. Nur ganz wenige Arzneimittel stammen aus tierischen Quellen, darunter Ambra grisea, Carbo animalis, Calcium carbonicum, Cantharis vesicatoria, Moschus, Spongia tosta, außerdem Sepia officinalis (vgl. Hahnemann: Gesamte Arzneimittellehre, 2007).
Wie hat Hahnemann seine Arzneimittellehre entwickelt und die vielen unterschiedlichen Arzneistoffe ausgewählt? Es hat nicht den Anschein, dass er bei der Auswahl der Substanzen einen konkreten Plan verfolgt oder irgendeine rationale Systematik zugrunde gelegt hätte. Viele Stoffe kannte er aus der zeitgenössischen Literatur, einige wurden bereits in der Medizin verwendet, viele Heilpflanzen waren schon im Altertum bekannt. Nosoden hat er zwar in der Praxis verwendet, aber nie in seine Arzneimittellehre aufgenommen.
Vermutlich hat oftmals auch der Zufall mitgespielt. Das zeigt sich am Beispiel von Sepia. Eine bekannte Anekdote berichtet, dass Hahnemann einen Maler dabei beobachtet habe, wie dieser einen in Sepiatinte getunkten Pinsel abgeleckt habe. Die dadurch entstandenen Symptome hätten Hahnemann zur Arzneimittelprüfung von Sepia inspiriert. Ob diese Geschichte einer genaueren Überprüfung standhält, habe ich in meinem Aufsatz untersucht (S. 6). Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Ereignis wirklich so stattgefunden hat.
Ein weiteres Beispiel aus der jüngsten medizinhistorischen Forschung hat übrigens das Motiv der Eselsmilchbäder von Kleopatra in ähnlicher Weise demontiert. Kleopatra, die in der Dermatologie zur Vorläuferin des Peelings gemacht wurde, hat nachweislich nie in Eselsmilch gebadet (Ursin: „The mother of chemical peeling“, thersites 12/2020).
Zwar ist diese „anekdotische Evidenz“ nun auch in der Homöopathie um eine Geschichte ärmer. Dennoch bleibt es klar Hahnemanns Verdienst, Sepia für die homöopathische Materia medica erschlossen zu haben. Seinem Forschergeist verdanken wir es, dass diese spannende Arznei als Therapieoption zur Verfügung steht.
Wenn man die wesentlichen Themen des Arzneimittelbilds von Sepia schlaglichtartig zusammenfassen wollte, könnte man folgende nennen: nervöse Erschöpfung und Gleichgültigkeit gegen die nächstliegenden Pflichten, gereizt, unruhig, rastlos; Folgen von hormonellen Veränderungen, Senkung, Schwäche, Abwärtsdrängen, Kälteempfindlichkeit; Überlastungssituation, Rückzugstendenz, Verlangen, allein zu sein – versinnbildlicht durch den sich mit der eigenen Tinte tarnenden Tintenfisch.
Dass es sich hier um ein „großes“ Mittel (Polychrest) handelt, zeigt allein die Zahl an gelisteten Symptomen: Im Computerrepertorium RadarOpus ist Sepia mit rund 13.000 Einträgen vertreten.
Für das vorliegende Heft wurde mit Sepia bewusst ein Polychrest ausgewählt, um anhand verschiedener methodischer und therapeutischer Zugänge die Vielseitigkeit und Vielgestaltigkeit der homöopathischen Arzneien exemplarisch abzubilden. Unsere Autoren stellen dies mit ihren Krankengeschichten unter Beweis: Edgar Gubo beschreibt in seinem Beitrag die Behandlung zweier Patienten mit Trigeminusneuralgie bzw. Metrorrhagie und erklärt dabei die Anwendung des Symptomenlexikons. Daniela Albrecht zeigt anhand einer Kinderwunschbehandlung die klassischen Wege der Arzneifindung (Kent-, Bönninghausen-Methode). Schließlich stellt Thomas Peinbauer die Empfindungsmethode nach Sankaran vor und dokumentiert die Behandlung einer Patientin mit Einschlafstörung, Herpes genitalis und Hypertonie.
Während bei der Anwendung des Symptomenlexikons sehr „symptomnah“ und analytisch gearbeitet wird und die Kenntnis des Arzneimittelbildes keine tragende Rolle spielt, beziehen sich die klassischen Zugangsweisen (z. B. Methode nach Kent) mit stärkerer Gewichtung der Gemütssymptome deutlicher auf das oben skizzierte Sepia-Bild. Bei der Empfindungsmethode schließlich werden zusätzliche Metaebenen eingezogen (Ebenen, Tierfamilien, Periodensystem etc.), wodurch ein noch „plastischeres“ Bild mit Blick auf Patient und Arznei entstehen kann.
Am Ende steht immer die Verschreibung – desselben Arzneimittels! Somit haben wir auch innerhalb der Homöopathie ein großes Spektrum mit verschiedenen Blickwinkeln auf dieselbe Substanz, was wieder einmal ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz – auch innerhalb der Homöopathie – voraussetzt.