Die Allgemeine Homöopathische Zeitung (AHZ) ist die Mitgliederzeitschrift des DZVhÄ. In der fünften Ausgabe 2022 steht das Thema „Hochsensibilität“ im Mittelpunkt. Lesen Sie das Editorial und die Vereinsmitteilung in voller Länge und stöbern Sie im Inhaltsverzeichnis. Mitglieder erhalten die komplette Print-Ausgabe automatisch im Rahmen ihrer Mitgliedschaft.

Editorial: Hochsensibilität

von Ulrich Koch

Die Welt der Reizüberflutung

Niemals in der Geschichte der Menschheit waren wir so vielen und intensiven Reizen aus unserer unmittelbaren Umwelt ausgesetzt. Umgebungsereignisse, soziale Interaktionen, Medienimpulse und ständige Erreichbarkeit konkurrieren im Akkord um die Synapsen. Fast scheint es, als ob der Sensation Seeker, der von einem Gipfel der Reizüberflutung zum nächsten eilt, um seine Transmitterausschüttungen im Belohnungssystem auf ausreichend hohem Level zu halten, zum neuen Kulturideal geworden wäre.

Hochsensible im Fokus der Homöopathie

Doch diese Reizintensität lässt auch die Menschen, die besonders sensitiv bereits auf subtile Reize reagieren und die schnell zur Überreizung tendieren, sichtbar werden: die Hochsensiblen. Für sie ist die Welt zu laut, zu grell, zu intensiv. Sie ziehen sich deshalb gerne zurück, mögen die Stille und fühlen sich umso wohler, je weniger Einflüssen sie gerade ausgesetzt sind.

Doch wenn sie mal aus dem Gleichgewicht geraten, ist es schwer, Hilfe zu finden: Viele konventionelle Untersuchungsmethoden werden als zu grob erlebt, die klassischen pharmakologischen Medikamente werden wegen der sehr schnell auftretenden Nebenwirkungen dem Wortsinne entsprechend zum Sündenbock (grch.: pharmakós = Sündenbock, das Opfer eines antiken sozialen Reinigungsrituals), sodass häufig nur der Weg zur sanften Medizin bleibt. Wahrscheinlich haben wir deshalb auch viel häufiger hochsensible Menschen in unseren homöopathischen Praxen, als wir ahnen. Um uns für die Sensitiven etwas zu sensibilisieren, haben wir deshalb den Themenschwerpunkt „Hochsensibilität“ für dieses Heft gewählt und hoffen, so Ihren Blick für die eher stille, feinfühlige Seite des Lebens ein bisschen weiter zu öffnen.

Themenschwerpunkt „Hochsensibilität“

Der Schwerpunkt dieses Heftes ist aus einer Weiterbildung für homöopathische Ärzte im Rahmen der Kurse für die Zusatzbezeichnung Homöopathie Wiesbaden-Naurod in diesem Frühjahr entstanden. Verwundert haben wir festgestellt, dass der Hochsensibilität bislang innerhalb der Homöopathie nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, obwohl viele unserer Patienten wahrscheinlich zu diesem Personenkreis gehören.

So haben Sabine Schmidt und ich einen Übersichtsartikel zu diesem Thema verfasst, der die theoretischen Grundlagen wie auch eine Annäherung an die Praxis beinhaltet. Eva Borsche hat dann aus ihrem großen Fundus Erfahrungen in der Behandlung Hochsensibler eingebracht und in Fallgeschichten diesem Phänomen ein Gesicht gegeben. Schließlich konnten wir Petra Paling gewinnen, für uns das noch recht junge Arzneimittelbild und ihre Erfahrungen mit Vernix caseosa niederzuschreiben, das in der Behandlung hochsensibler Patienten eine wichtige Rolle spielen kann, wenn die Abgrenzung zur Außenwelt nicht gut gelingt. Denn das, was dem Normalsensiblen eine Quelle der Freude sein kann, kann für den Hochsensiblen leicht in eine Überflutung der Sinne ausarten, die sich dann fühlen wie ein Chamäleon in der Disco.

In einer tiefenscharfen Falldarstellung führt schließlich Heinz Kellinghaus zu dem Arzneimittelbild von Guarea trichiloides, einer kleinen Arznei aus dem Reich der Bäume, hin.

Inspiration für die Praxis

In seinem neuesten Werk „Vita contemplativa: oder von der Untätigkeit“ weist uns der Philosoph Byung-Chul Han darauf hin, dass die Untätigkeit kein Unvermögen, keine Verweigerung, keine bloße Abwesenheit von Tätigkeit, sondern ein eigenständiges Vermögen darstellt. Das, was dem Hochsensiblen eine notwendige Insel „festlicher Ruhe, die Lebensintensität und Kontemplation in sich vereint“, ist, „eine freie, lebendige Zeit, die nichts produziert“, kann auch für uns „eine Intensiv- und Glanzform des Lebens“ sein, die zu kultivieren wir vielleicht von denjenigen, die unter ihrem Fehlen am meisten leiden – den Hochsensiblen –, am besten lernen können.
So wünsche ich Ihnen, dass die folgenden Seiten Sie in einem Zustand der Muße erreichen und etwas inspirieren können.