„Mir war die Bereitschaft immer ein bisschen unheimlich, mit der sowohl Schreiber als auch Leser manchmal an eine Art Deckungsgleichkeit zwischen Wort und Wirklichkeit glauben wollen: als ob beispielsweise zwischen dem Wort „Meer“ und dem, worauf der Held einer Geschichte nach Westen segelt oder worin ein anderer schwimmend gegen das Ertrinken kämpft und schließlich untergeht, kein ungeheuerlicher Unterschied bestünde! Selbst ein Erzähler, der sich der Umgangssprache, eines Dialektes oder Slangs bedient, um der Wirklichkeit so nahe wie möglich zu kommen, wird schließlich nicht leugnen, dass ein Wort zwar vieles, sehr vieles tragen kann, aber kein Schiff.“
Christoph Ransmayr: „Gerede – Elf Ansprachen“ / Verlag S. Fischer
Was dem Schriftsteller als Wort zur Verfügung steht, ist dem Wissenschaftler die Zahl. Worte und Zahlen dienen der Annäherung an die Wirklichkeit, es bleibt die Frage, wie weit sie sich dieser jemals annähern können. Worte können Aspekte der Wirklichkeit beschreiben, das geschickte Zusammenfügen verschiedener Worte wird unter Umständen zur Kunst, die dazu führt, sich in einer kunstvoll beschriebenen Wirklichkeit zu fühlen, also das „Meer“ zu „riechen“, die Gischt zu „spüren“ oder die Brandung zu „hören“. Dennoch macht dieses „Meer“ uns nicht „nass“, kann uns nicht „tragen“ oder „verschlingen“. Das „Meer“ ist mehr. Ebenso, wie die Aufführung einer Sinfonie mehr ist als die Partitur und die rhythmische Aneinanderreihung der Töne.
Zahlen und deren Verarbeitung im Rahmen von statistischen Analysen und mathematischen Modellen können die Klimakrise beschreiben, aber sie lösen weder Starkregen aus noch Dürre. Zahlen beschreiben die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, aber sie sind weder der Schmerz noch die Verzweiflung. Algorithmen manipulieren unser Konsumverhalten, aber das Ergebnis ist weder Glück noch Zufriedenheit.
Zahlen, ihre Umwandlung in Punkte einer Kurve und deren Deutung als wissenschaftliche Aussage sind ohne Zweifel mehr oder weniger gelungene oder „kunstvolle“ Annäherungen an die Wirklichkeit, aber sie sind nicht das „Meer“ des Lebens. Im Rahmen der Medizin transportieren sie weder Emotionen, psychosoziale Verknüpfungen oder individuelle Maßstäbe von „Sinn“ oder „Wert“. Sie können nicht Ausdruck sein von Wut oder Trauer ob einer Krankheitsdiagnose, und sie können weder Seele noch Geist und auch nicht den Körper heilen, sie können keinen Trost spenden und keine Zuversicht schenken. Sie bleiben, was sie sind: abstrakte Zahlen, nützlich um Krankheiten, Therapieoptionen oder Heilungswahrscheinlichkeiten wissenschaftlich zu verpacken. Das „Meer“ bleibt unberührt wie der individuelle Mensch. Denn „Meer“ und Mensch sind ungleich mehr als die Versuche einer sprachlichen oder mathematischen Annäherung.
Nur das gelebte Leben macht „nass“, trägt uns ans Ufer oder verschlingt uns. Eine Medizin, die sich allein in statistischen Wahrscheinlichkeiten, Leitlinien oder Abstraktionen erschöpft ist ohne Zweifel mehr als gar keine Medizin, aber sie erreicht oft nicht den Menschen in der Fülle oder Armseligkeit seines Lebens, in individueller Not oder existentieller Verzweiflung. Wir brauchen diese Medizin, ohne Zweifel! Aber Menschen brauchen auch das Herz, die Erfahrung und den Verstand von Ärztinnen und Ärzten, die in erster Linie den Menschen in ihrer ganzen Vielfalt und Unterschiedlichkeit dienen und sich erst in zweiter Linie zur Wissenschaft in Zahl und Wort bekennen. Die das Wasser des Meeres hautnah spüren und erlebt haben und ihren Patientinnen und Patienten erfahrene „Schwimmlehrer“, oft auch „Rettungsschwimmer“ sind. Die Menschen „tragen“ wie das Meer ein Schiff.
Dr. med. Ulf Riker, 2. DZVhÄ Vorsitzender